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"It's a long long way from Canada..." Teil 1 : 2 : 3 : 4
Abteilung 1, in der man gleich auf einem Nebenschauplatz der Popgeschichte einige fleißige und begnadete Hauptpersonen antrifft.  
  Der erste Schuß verändert alles. Gerade war man noch ein Junge, der jeden Samstag mit der Entscheidung kämpft, ob die 'Sportschau' in der ARD oder Ilja Richters 'Disco' im ZDF lebenswichtiger sei, gerade stolperte man noch von Party zu Landjugendball zu Rotweinabenden mit Keith Jarrett, als man mitten im Lauf, mitten in der Bewegung, von dieser übergroßen Kugel aus einer 45er Magnum getroffen wird. Man sieht sie kommen, langsam, verlangsamt wie in einem Film von Sam Peckinpah. Sie kommt auf einen zu, reißt Haut und Fleisch auf, trifft ins Herz: Doch niemand sonst will etwas bemerkt haben. Nur das verletzte Herz bleibt zurück in der Brust und will nicht heilen.
     Da begreift der Junge, daß auf dieser Kugel sein Name stand, daß sie nur für ihn bestimmt war: sein erster Schuß. Wohlige Wärme. Wohliger Schmerz. Wohliges Räkeln auf den Matratzen des Partykellers. Allein unter Milliarden. Allein mit dieser Stimme, mit dieser Musik. Die macht "pling, pling, schnarrr". Und die Stimme brummelt: "There is a war between the rich and the poor, between man and woman"; und "Is this what you wanted, to live in a house that is haunted by a ghost?"; und "Lover, lover, lover come back to me". Die Stimme spricht mit der Stimme eines 40jährigen Mannes vom eigenen pickeligen Leid. Sie nimmt ernst und tröstet. Sie verrät ein wenig, nicht zuviel, von den großen Geheimnissen des Lebens jenseits der nächtlichen Erektionen. Später wird der Junge sehen, daß sich auf dem Cover zwei Engel paaren, Gestalten aus einem arkanen Buch des 16. Jahrhunderts, und daß es also um die geistige Vereinigung des weiblichen mit dem männlichen Prinzip gehe: so fucking what! Jetzt wird sein Leben auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, jetzt! Selbstmitleid von nie geahntem Ausmaß! Reinigender, kühler, klarer Zynismus! Ein Schnurren, Balzen, Raunen, das aus der Hölle kommt und den Himmel will. Aber wer ist dieser ältere Bruder?
     Es ist Leonard Cohen, Kanadier, Jahrgang 1934. Ein alter Sack, wenn es denn je einen gegeben hat. Ein mächtiger Verderber der Jugend. Ein Beatnik aus der Provinz, der eigentlich Countrymusik machen wollte, aber seit 1968 als Inkarnation des abgeklärten Folksängers tingelt, dem Beat-Dichter alle Ehre machend und auch dem Folk. Cohens 'New Skin for the Old Ceremony' stellen wir als erste Platte in das noch leere Fach unserer imaginären Plattensammlung. Nicht seine von Phil Spector zu Camp gewendelte 'Death of a Ladies' Man', nicht seine hitverdächtigeren Frühwerke mit ihrer kargen Gitarrenbegleitung zur weltgeschmerzt-abgewendeten Stimme sollen es sein, sondern dieser Bastard, diese Platte am Scheideweg, die Musik eines alternden Narren, der von sich selbst die Nase voll hat und weiß, daß seine Zukunft nur noch Fusion-Musik, Zen-Buddhismus und Sugardaddy-Dienste für Jennifer Warnes bereit hält. Nur auf 'New Skin...' wird es ungemütlich in der ansonsten etwas alternativ-saturierten Rotweintrinkerwelt des Kantschädels. Nur hier wetterleuchtet existentieller, nicht gewohnheitsmäßiger Zweifel. Und ist eine Zeile nicht hilfreich wie "Here's a man still working for your smile", wenn man selbst die vierzig erreicht hat? Keine Ahnung von Musik, aber das Unterkiefer so groß wie sein Herz. Unser Mann. Mein erster Schuß.

Genrecheck:
Beat 1 / Beat 2

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1
LEONHARD COHEN
'New Skin for the Old Ceremony' (1976)

 

 

 

 

 

 

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