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"Orange Crate Art..." Teil 1 : 2 : 3 : 4
Abteilung 9, in der wir uns den blauen Staub der Straße aus den Kleidern schütteln und in die Operette gehen...  
  Selbstverständlich mag es für den einen oder die andere von uns ein Fest sein, sich mit einer Dose warmem Bier und Dock Boggs im Walkman ins Untergeschoß einer Fußgängerzone zu setzen und sich von Hunden anpinkeln zu lassen. Aber heute nicht, nicht mit mir: Ich ziehe meine besten Kleider an; die Wohnung ist frisch gewienert und der Tisch gedeckt mit passenden Tellern, Silberbesteck und je einem Extraglas für Wein und Wasser. Tulpen stehen in der Vase, die Rotweinflasche ist geöffnet, damit ihr Inhalt atmen kann - was auch immer das heißen mag. Draußen bricht die blaue Stunde an, irgendwo dort draußen ist sie unterwegs zu mir, irgendwie hier drinnen fehlt aber noch etwas: Musik.
     Hätte nicht Großvater einen Täuber oder Caruso aufs Grammophon gelegt, so er eines besaß? Und auch ich brauche opulente Musik für meine Daisy, akustische Fülle, Überschwang und Dekor, großangelegte Schlachtengemälde meiner Liebesfähigkeit, geerdet in simplen Worten und Gesten. Ich brauche Musik, die den Raum erfüllt, ohne die volle Aufmerksamkeit zu fordern, Musik, die nicht allzu subtil meine Stimmungslage ausdrückt, aber dem Gast auch nicht gleich eine Art von akustischem Knutschfleck verpaßt. Kurz, ich brauche Operette. Ich brauche 'Orange Crate Art' von Van Dyke Parks und Brian Wilson. Schon die ersten Takte des Titelstücks bestätigen meine Wahl; Gitarren plinkern wie in einem Barock-Konzert, haben aber hawaiianische, nicht italienische Sonne gebunkert, Streicher überschlagen sich wie in einer sentimentalen Filmmusik - die beiden Großmeister bei der Arbeit. Für mich ganz alleine breiten der geisteskranke Songwriter und der dickliche Herr unter Genieverdacht ihre Regenbogenpalette aus, distinguiert zwar - man ist ja kein LSD-fressender Twen mehr - aber immer noch so kraftvoll und verschwenderisch wie eine Musiksequenz in einem Disneyfilm. Van Dyke Parks, Beach-Boys-Kollaborateur der zweiten Stunde und weiland einziger kongenialer Widerpart für den an depressiven Seelenfresserkrankheit leidenden Brian, weiß auch mit dem alternden Wilson umzugehen. Buntes Seidentuch um buntes Seidentuch ziehen sie gemeinsam aus dem Zylinder, schleudern Doo-Wop-Karnickel durch die Luft, springen durch Reifen aus brennenden Akustikgitarren, balancieren Akkordeonspieler auf dünnen Stäbchen und zersägen Jungfrauen wie einst im Mai, während dazu gefakte Chinamann-Akkorde wie ein schwerer Duft in der Luft liegen.
     Die Musik, die sie da spielen, ist uralt, könnte vielleicht von Rodgers und Hammerstein sein oder aus dem Repertoire von Cole Porter. Aber die Musical- oder Operettenqualität wird immer noch mit genügend Pop-Weisheit - "Movies is magic/real life is tragic" - aufgeladen, um nicht zu gemütlich zu geraten. Wie in einem David-Lynch-Film ahnt man bereits beim ersten Mithören, daß an diesem weißen Traumgestade die eine oder andere Leiche vermodert, nur nächtens freigespült, um fette Krabben zu nähren. "Ich hab' ihr doch nur in die Schulter gefixt..."

Genrecheck:
Surf Music

 

 

 

 

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VAN DYKE PARKS / BRIAN WILSON
'Orange Crate Art' (1995)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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